Streicheln oder schlachten?
Dr. Marcel Sebastian, ist Soziologe und arbeitet schwerpunktmäßig zur Beziehung zwischen Menschen und Tieren. Studiert und promoviert hat er an der Universität Hamburg, heute arbeitet er an der TU Dortmund im Bereich der Umweltsoziologie und Transformationsforschung. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er zudem als Autor tätig und hat im September 2022 sein Buch „Streicheln oder Schlachten. Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist – und was das über uns aussagt“ im Kösel Verlag veröffentlicht.
Mir hat er erzählt, seit wann er sich mit dem Mensch-Tier-Verhältnis beschäftigt, warum wir zu den einen eine emotionale Bindung aufbauen und die anderen reine Objekte für uns sind und ob wir bewusst entscheiden können, wen wir streicheln und wen wir schlachten.
Vielen Dank, Marcel, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast!
Marcel, wie lange beschäftigst du dich schon mit dem Mensch-Tier-Verhältnis? Und wie kam es dazu?
Eigentlich habe ich schon mein Studienfach Soziologie gewählt, weil mich interessiert hat, wie diese Gesellschaft funktioniert, in der Tiere so höchst unterschiedlich behandelt werden. Die Soziologie hat mir dann ermöglicht, das Thema nicht nur als moralisches Problemfeld zu verstehen, sondern als einen Gegenstand für soziologische Forschung. In dieser geht es mir vor allem darum, den gesellschaftlichen Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis zu erklären. Dieser Wandel zeigt sich in den verschiedenen Konflikten, die wir als Gesellschaft etwa über das Tierschutzgesetz, die Ernährung oder die Werte und Leitbilder gegenüber Tieren führen. Mit der Promotion konnte ich diese Forschungsfragen dann intensiv bearbeiten und werde das gesellschaftliche Verhältnis zu Tieren auch weiter als einen meiner Forschungsschwerpunkte behalten.
Dass Schweine sogenannte Nutztiere und Hunde Haustiere sind, ist ja kein Naturgesetz. Wie und wann kam es zu dieser Rollenzuweisung und was entscheidet darüber, wie wir diese Tiere behandeln?
Die Frage, welche Tiere als essbar gelten und welche nicht, ist im Wesentlichen eine kulturelle. Das heißt, dass wir gesellschaftlich aushandeln, welche Werte und Ideale wir mit unterschiedlichen Tieren verbinden. So sind die einen Gefährten, Freunde, Familienmitglieder und die anderen Nahrungsmittel und Rohstoffe. Dass es sich hier um sozial konstruierte Verhältnisse und keine Naturgesetze handelt, zeigt zum einen der Wandel in der Beziehung zu Tieren. So war das Schlachten von Hunden und Katzen beispielsweise in Deutschland noch bis 1986 legal – juristisch waren diese Tiere bis dahin auch Schlachttiere. Zum anderen zeigt aber auch der globale Vergleich, wie unterschiedlich Menschen Tiere wahrnehmen und behandeln. In der westlichen Kulturgeschichte ist ein wesentlicher Bruch durch den Ausgang aus der Agrargesellschaft und den Übergang in die Moderne markiert. Erst seit dieser Zeit differenzieren wir die domestizierten Tiere in die Kategorien „Haustiere“ und „Nutztiere“ im heutigen Sinne.
Zu den einen bauen wir eine tiefe emotionale Beziehung auf, andere sehen wir als reine Objekte - und das, obwohl sich diese Tiere in Lernfähigkeit, Intelligenz, Interaktion etc. ja sehr ähnlich sind. Wie kann das sein?
Tiere erfüllen in menschlichen Gesellschaften unterschiedliche Funktionen. Sogenannte Nutztiere sind insbesondere durch die Industrialisierung ihrer Schlachtung und Haltung immer mehr wie Objekte behandelt worden. Die Vorstellung, dass diese Tiere wenig intelligent oder schmerzempfindlich sind, hatte als Legitimationsgrundlage lange Bestand und ist auch heute noch sehr wirkmächtig. Haustieren konnten Menschen emotionale, soziale oder kognitive Kompetenzen viel eher zugestehen, weil hier die Interaktion mit einem individuellen Tier zunehmend im Vordergrund stand. In Haustieren suchen Menschen oft genau jene Eigenschaften, die sie anderen Tieren absprechen. Diese Ungleichbehandlung zwischen „dem klugen Hund“ und „dem dummen Schwein“ wird heute aber immer mehr in Frage gestellt. Unser Wissen über Tiere ist sozusagen gefährlich für den Status Quo der landwirtschaftlichen Tiernutzung, denn die Forschung zeigt eindeutig, dass wir (insbesondere die Nutz-)Tiere lange unterschätzt haben.
Dass es den Tieren in der Tierindustrie meist nicht gut geht und dass die Verhältnisse nicht selten katastrophal sind, wissen viele von uns ja mittlerweile. Warum bringen wir für Schweine, Rinder und Co. scheinbar keine Empathie auf? Müsste nicht spätestens ein Tiertransporter auf der Straße, der verängstigte Tiere zum Schlachthof fährt, etwas in uns auslösen?
Ich habe für meine Doktorarbeit Interviews mit Schlachtern geführt und unter anderem analysiert, wie sie mit den emotionalen Anforderungen ihrer Arbeit umgehen. Emotionale Distanzierung zu den Tieren war hier zentral und wurde vor allem dadurch erreicht, dass die Befragten keine persönliche Beziehung zu individuellen Tieren zuließen und ihre Aufmerksamkeit bewusst vom Töten der Tiere ablenkten – während der Arbeitszeit dachten sie nicht über das Schicksal einzelner Tiere nach. Ich glaube, dass das auch für die Mehrheit der Konsument*innen gilt: Menschen haben kulturell gelernt, emotionale Distanz zu denjenigen Tieren aufzubauen, die für die Ernährung getötet werden. Andererseits wächst die Zahl der Menschen, die hierin ein Dilemma sehen, das sie nicht länger tragen wollen und sich daher bewusst mit der Haltung und Schlachtung von Tieren konfrontieren. Soziale Bewegungen haben an diesem Wandel einen großen Anteil.
Können wir bewusst entscheiden, wen wir streicheln und wen wir schlachten? Oder handelt es sich dabei zum Beispiel um erlernte Muster?
Einerseits lernen wir von klein auf, was in einer sozialen Gruppe (von der Familie bis zu „der Gesellschaft“) als normal und angemessen, als richtig oder falsch, gilt. Dieses Wissen und diese Ideen internalisieren wir und sie bleiben oft unbewusst ein wichtiges Fundament für unser alltägliches Handeln und unsere Sicht auf die Welt. Aber natürlich können wir diese kognitiven und ideellen Muster reflektieren und verändern. Spätmoderne Gesellschaften sind gerade dadurch charakterisiert, dass viele tradierte Werte und Selbstverständlichkeiten durchbrochen und zur Debatte gestellt werden. Das betrifft auch das Verhältnis der Gesellschaft zu Tieren. Davon zeugen beispielsweise die wachsende Zahl vegetarisch oder vegan lebender Menschen. Aber auch diejenigen, die sich selbst als flexitarisch bezeichnen (immerhin über die Hälfte aller Deutschen!), bezeugen zumindest ein wachsendes Unbehagen mit dem derzeitigen Umgang mit sogenannten Nutztieren. Ja, wir können uns bewusst zu den Dingen in unserer Umwelt in Beziehung setzen und auch unsere Denk- und Sichtweise verändern.
Würdest du sagen, dass die Debatten um Tiere/ Tierrechte intensiver geworden sind in den letzten Jahrzehnten? Wenn ja, woran könnte das liegen?
Auf jeden Fall. Wir haben noch nie so kontrovers über Tiere gestritten. Das liegt zum einen an einem kulturellen Wandel, in dem tradierte Sichtweisen auf Tiere (hier der beste Freund, dort das Schnitzel zum Dumpingpreis) infrage gestellt werden. Soziale Bewegungen, insbesondere die Tierrechtsbewegung, haben hier einen großen Anteil, weil sie zum Beispiel die Zustände in der industriellen Tierhaltung durch Filmaufnahmen sichtbar machen. Soziale Medien als Beschleuniger des Informationsaustauschs und als neue Plattformen jenseits der klassischen Medien haben diese Entwicklung sicherlich forciert. Hinzu kommt unser steigendes Wissen über die Tiere selbst – wir sprachen schon über die Fähigkeiten von Schweinen oder Hühnern, die ihnen lange nicht zugestanden wurden –, aber auch über die negativen Folgen vom gegenwärtig hohen Fleischverzehr für die Gesundheit, die Umwelt- und Klimaschäden der industriellen Tierhaltung und der Futtermittelproduktion und so weiter. All das führt zu einem Druckanstieg und löst immer häufiger Debatten über die unterschiedlichen Formen des Mensch-Tier-Verhältnisses aus.
Meinst du, die Unterscheidung zwischen Nutztier und Haustier wird sich irgendwann auflösen?
In einzelnen Fällen hat sie das schon – etwa, wenn Hunde und Katzen nicht mehr als Schlachttiere im Sinne des Fleischhygienerechts gelten. Hier wird klar: Wenn sich die kulturellen Ideen einer Gesellschaft ändern und wenn genug Druck auf die Politik herrscht, können zumindest einzelne Tierarten ihren Status wechseln. Ähnliche Veränderungen könnte ich mir mittelfristig zum Beispiel für Pferde oder Kaninchen vorstellen. Ganz anders verhält sich die Frage natürlich bei den „klassischen Nutztieren“, also z. B. Huhn, Rind und Schwein. Eine Auflösung der Unterscheidung zwischen Haus- und Nutztieren würde bedeuten, dass wir ein ganz neues System an Tierkategorien benötigen, und ich halte es für unwahrscheinlich, dass das passiert, solange es gesellschaftlich noch als legitim gilt, Tiere überhaupt zu schlachten und zu essen. Wie wahrscheinlich das ist, wage ich nicht zu beurteilen, aber klar ist, dass Dynamik in das Mensch-Tier-Verhältnis gekommen und dessen Zukunft ungewiss ist.
Welche Botschaft(en) möchtest du mit deinem Buch senden?
Mit meinem Buch „Streicheln oder Schlachten“ verfolge ich keinen moralischen Aufruf in dem Sinne, dass ich die Leser*innen von einer ganz bestimmten (also meiner) Sichtweise auf Tiere überzeugen will. Vielmehr geht es mir um die Klarstellung: So wie bisher geht es nicht weiter! Erstens spitzen sich die kulturellen Deutungskämpfe über Tiere zu. Kleinere Reformen führen kaum zu Befriedung der Konfliktparteien und mittelfristig ist nicht abzusehen, dass sich der Streit über die Moral im Umgang mit Tieren einvernehmlich löst. Zweitens ist vor allem die industrielle landwirtschaftliche Tierhaltung so zentral mit dem Klimawandel und dem globalen Artensterben verbunden, dass eine Ernährungs- und Agrarwende ohnehin auf der politischen Tagesordnung steht. Völlig unabhängig von der Tierethik steht hier auch das Überleben der Menschen selbst zur Debatte. Wir werden die gesellschaftlichen Beziehungen zu Tieren verändern – das ist völlig klar. Die Frage ist nur, wie? Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle in die Debatte über die Zukunft der Mensch-Tier-Beziehung einsteigen. Mein Buch will die Leser*innen mit dem argumentativen Rüstzeug ausstatten, diesen Streit möglichst aufgeklärt und reflektiert führen zu können. Dabei legt es immer wieder auch den Finger in die Wunde, in dem es uns auf die zahlreichen Widersprüche und Krisen im Mensch-Tier-Verhältnis hinweist.
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